Digitale Zugänglichkeit in der Bildung – eine Einordnung

Die Massnahmen zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen setzen in der Interaktion zwischen Individuum und Umwelt an - mit Hilfsmitteln oder Assistenzangeboten und mit strukturellen Massnahmen.

Gastbeitrag von Dr. Anton Bolfing, Digital Accessibility, LET Lehrentwicklung und -technologie, ETH Zürich

06. April 2023

Das biopsychosoziale Modell der Behinderung, wie gemäss International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) postuliert, verweist direkt auf den zentralen Aspekt der Partizipation von Menschen mit Behinderungen. Behinderungen ergeben sich aus dem Zusammenspiel individueller und umweltlicher Faktoren. Menschen sind nicht einfach behindert, sondern oft werden sie behindert in der Interaktion mit ihrer Umwelt. Wichtige Rollen spielen dabei soziale und interpersonale wie auch strukturelle, bauliche und technische Faktoren.

Und genau dort, in der Interaktion zwischen Individuum und Umwelt, setzen die Massnahmen zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen an - auf Seiten der Betroffenen mit individuellen Massnahmen mittels Hilfsmittel (Assistive Technologien, AT) oder Assistenzangeboten, auf Seiten der Umwelt mit strukturellen Massnahmen. Die beiden Seiten bedingen sich gegenseitig. Ein Rollstuhl als individuelles Hilfsmittel kann seinen Zweck nur erfüllen, wenn die Umwelt auch für Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer zugänglich ist. Dazu gehört ein niederfluriger öffentlicher Verkehr, zugängliche Gebäude, Rampen als hindernisfreie Alternativen zu Stufen und starken Steigungen, gute Signaletik, uvm.

Individuelle und strukturelle Massnahmen

Ganz ähnlich wie in der physischen Umwelt verhält es sich im digitalen und virtuellen Raum. Um im Digitalen hindernisfrei interagieren zu können, sind Menschen mit Behinderungen auf eine Vielzahl von assistiven Technologien angewiesen: Systeme zur synthetischen Sprachausgabe, zur Spracheingabe, individuell anpassbare Ein- und Ausgabegeräte wie Spezialtastaturen, Systeme zur Steuerung von Benutzeroberflächen mit Augenbewegungen und weitere.

Während Inklusion im Zusammenspiel von Hilfsmitteln und Umwelt, von individuellen und strukturellen Massnahmen geschieht, fokussieren die Begriffe Hindernis- oder Barrierefreiheit, Zugänglichkeit und Accessibility auf strukturelle Massnahmen, auf Anpassungen in der Umwelt - in der physischen Welt wie im Digitalen. Von zentraler Bedeutung ist in beiden Fällen das Designprinzip Universal Design. Diesem gemäss müssen Produkte, Benutzeroberflächen und Inhalte möglichst flexibel sein in der Bedienung, und wo das nicht ausreicht, ist sicherzustellen, dass sie mit den jeweils üblichen assistiven Technologien kompatibel sind.

Symbolbild aus Video Visual Content - Accessibility in Higher Education
Symbolbild aus Video Visual Content - Accessibility in Higher Education

Zugänglichkeit der Lerninfrastruktur und -inhalte

Flexible Nutzbarkeit und Kompatibilität mit assistiven Technologien sind genau die Ziele unserer Bemühungen zur Sicherstellung der Hindernisfreiheit an der ETH Zürich. Neben Aspekten der Mobilität und Navigation auf dem Gelände und in den Gebäuden beinhaltet die Hindernisfreiheit einer Bildungsinstitution auch die Zugänglichkeit ihrer Lerninfrastruktur und -inhalte. Seit nun mehr als zwei Jahren ist die ETH Zürich intensiv damit beschäftigt, die Zugänglichkeit ihrer zentralen Lerninfrastruktur nachhaltig sicherzustellen.

Know-how und Angebote der ETH Zürich nutzen

Für die Sicherstellung der Zugänglichkeit der Lerninhalte ist die ETH Zürich aber auf die aktive Mithilfe all jener angewiesen, welche in deren Entwicklung und Erstellung involviert sind, insbesondere der Dozierenden und ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die dazu notwendigen Kompetenzen und das dazugehörige Know-how wurden in den letzten zwei Jahren aufbereitet und stehen allen Angehörigen der ETH Zürich auf dem Infoportal e-Accessibility zur freien Verfügung. Eine kurze Einführung entlang der fünf Themen (1) Flexible Ausgabe, (2) Flexible Eingabe, (3) Info & Semantik, (4) Bilder und Multimedia sowie (5) Farben und Kontraste erlaubt einen schnellen und niederschwelligen Einstieg ins Thema. Verschiedene Angebote für zielgruppenspezifische Schulungen oder FAQs & Quick Wins mit pragmatischen Lösungsansätzen zu konkreten Fragestellungen decken das notwenige Know-How zur Erstellung von zugänglichen Lerninhalten ab. Wo Fragen bleiben, stehen jederzeit individuelle Beratungsangebote zur Verfügung.

Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz?

Technische Entwicklungen im Bereich von Mobilitätseinschränkungen wie treppensteigende Rollstühle oder Exoskelette mögen hoffen lassen, dass strukturelle Massnahmen in ferner Zukunft nicht mehr in demselben Mass notwendig sein werden wie heute. Vergleichbare Hoffnungen für die digitale Umwelt erwachsen aus den neuesten Fortschritten im Bereich der Künstlichen Intelligenz KI. Werden KI-Systeme in naher Zukunft in der Lage sein, Abbildungen, Illustrationen und Grafiken mit sinnvollen Alternativtexten zu versehen? Werden sie fähig sein, Textinhalte sinnvoll zu strukturieren? Oder interaktive Komponenten mit sinnvollen semantischen Informationen zu ergänzen? Vielleicht, aber sich darauf zu verlassen, scheint vorläufig noch zu riskant. Bis dahin sind dies wichtige Informationen, die Menschen mit Behinderungen fehlen, wenn wir sie nicht eigenhändig mitliefern.

Gerne verweisen wir zum Schluss auf unsere informativen Sensibilisierungsvideos zum Thema und wünschen allen Leserinnen und Lesern viel Spass und den einen oder andern Aha-Moment damit.